Foto Kleinkind agressiv

Aggressionen bei Kindern begleiten

Für viele Fachkräfte sind starke Emotionen bei Kindern eine Herausforderung. Kindheitspädagogin Kathrin Hohman erläutert entscheidende Elemente, die eine achtsame Begleitung ermöglichen.

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Der zweijährige Fredi steht in der Bauecke und beobachtet einen Moment den Gleichaltrigen Nils. Dieser ist völlig im Spiel versunken und lässt sein Auto über die Spielstraße rollen. „Brumm, Brumm…“, macht er. Die Erzieherin Lisa sieht ihm dabei aus der Ferne zu. Plötzlich läuft Fredi zu Nils und entreißt ihm das Auto. Nils beginnt daraufhin zu schreien, rennt Fredi hinterher und beißt ihn kräftig in den Arm. Aus einer ruhigen und scheinbar harmonischen Situation entwickelte sich blitzartig ein Konflikt, der die Fachkraft Lisa zur Begleitung benötigt.

Aggressionen achtsam zu begleiten benötigt seitens der Pädagog:innen Verständnis, entwicklungspsychologisches Hintergrundwissen sowie Selbstregulationsstrategien, um nicht selbst überfordert und ohnmächtig zu reagieren. Diese drei Elemente sollen im Folgenden erklärt werden.

Erstens: Kinder verstehen

Aggressionen im Kindesalter sind völlig normal. Sie geben dem Menschen die Kraft, Nein zu sagen und eigene Grenzen aufzuzeigen. Auch wenn es im Beispiel so aussehen mag, als würde Fredi grundlos reagieren, ist wichtig zu wissen: Aggressionen haben immer einen Grund und weisen auf ein unerfülltes Bedürfnis hin.

Da es Kindern noch schwer fällt, ihre Konflikte angemessen auszudrücken, sind sie auf Erwachsene angewiesen, die ihnen dabei zur Seite stehen und mit ihnen gut kommunizieren. Sie benötigen Erwachsene, die ihnen die Botschaft hinter dem Verhalten entschlüsseln.

Sinnbildlich geht es darum, unter die Wasseroberfläche zu blicken und dem Kind dabei zu helfen, die eigenen Gefühle zu entschlüsseln und die unerfüllten Bedürfnisse zu erkennen. Das können Bedürfnisse nach Selbstbehauptung, Ruhe, Verbundenheit oder Spiel sein. Dann gilt es, Strategien aufzuzeigen, wie sie ihr Anliegen ausdrücken können.

Dieser Prozess dauert in der Regel viele Jahre und erfordert viel Übung und Geduld seitens der Fachkräfte. Und auch wenn es manchmal nicht so scheint, wir sollten uns vergegenwärtigen: Ein Kind zeigt in jedem Moment sein bestmögliches Verhalten und kämpft für sich, nie gegen einen anderen Menschen (vgl. Hohmann 2021).

Zweitens: Entwicklungsphychologisches Wissen

Man könnte annehmen, dass Fredi absichtlich und berechnend das Auto entwendet hat. Für diese Bewertungen, die Erwachsene gern vorschnell treffen, ist ein Blick auf die Reife und den Entwicklungsstand des Kindes nötig.

Es sei daran erinnert, dass Kinder ungefähr in den ersten drei Jahren egozentrisch denken und auch fühlen. Sie fühlen sich als Nabel der Welt und können sich anfangs noch nicht in das Gegenüber einfühlen.

Das bedeutet, dass Fredi das Gefühl, welches Nils nach dem Verlust des Autos spürt, nicht selbst wahrnehmen kann. Hierfür wäre echte Empathie nötig, die sich aber erst im Laufe der Zeit entwickelt. Schrittweise lernen Kinder in ihrem sozialen Netz die Wünsche, Gedanken und Gefühle ihres Gegenübers kennen und lernen dann, sich einzufühlen.

Gedanken und Gefühle anderer nachzuvollziehen, wird in der Psychologie als „Theory of Mind“ bezeichnet (vgl. Largo 2010, S. 126 f.). Dieses Wissen hilft Erwachsenen dabei, den Kindern keine Boshaftigkeiten zu unterstellen. Dies „(…) wäre unprofessionell und ein Zeichen fehlender Berücksichtigung ihres Entwicklungs- und damit auch ihres Erkenntnisstandes. Die Absicht ist noch außerhalb ihrer gedanklichen Möglichkeiten“ (Haug-Schnabel 2020, S. 79).

Bewertet die Fachkraft ein Verhalten, beeinflusst das automatisch auch ihr eigenes Handeln. Mit einem feinfühligen und achtsamen Blick erkennt sie höchstwahrscheinlich, dass Fredi aus dem Gleichgewicht geraten ist und Unterstützung benötigt, um sein unerfülltes Bedürfnis zu erkennen und gewaltfrei zu kommunizieren.

Der achtsame Blick lässt zudem ein „Täter- und Opferdenken“ überflüssig werden. Jedes Gefühl wird anerkannt und erhält Raum. Die Erzieher:in begleitet dieses, tröstet und erarbeitet mit den Kindern Wege zur Konfliktlösung mit denen es allen gut geht.

Drittens: Selbstregulation

Was geschieht, wenn die intensiven Gefühle nicht nur bei den Kindern bleiben, sondern auch Erwachsene wütend und aggressiv werden? Selbstverständlich haben alle Menschen das Recht, Gefühle zu haben. Es ist nur in einer akuten Konfliktsituation eher hinderlich, wenn Erwachsene auf die Aggressionen der Kinder selbst aggressiv reagieren. Daher gilt immer, zunächst sich selbst zu regulieren, bevor man die mit dem Kind interagiert.

Die einfühlsame Co-Regulation eines Kindes ist aber nur möglich, wenn der Erwachsene gelernt hat, die eigenen Impulse, Handlungen, Erregungen und Gefühle zu steuern. Um sich selbst achtsam zu begegnen gibt es einige wertvolle Werkzeuge um innezuhalten, so wie das bewusste Atmen, die eigene Körperwahrnehmung, z. B. in Form eines Bodyscans aus dem MBSR, oder einfach das Zählen von Gegenständen im Raum.

Zudem gilt es, bewusst auf Stressfaktoren zu achten, die zur Übererregung führen können. Mögliche Stressoren im Bereich der pädagogischen Praxis sind Lärm, das Aufschieben von Bedürfnissen, mangelnde Selbstfürsorge, Zeitdruck, Hektik oder Konflikte.

Begleiten in vier Schritten

Um einen Konflikt zwischen Kindern feinfühlig zu begleiten, haben sich die folgenden vier Schritte in der Praxis bewährt:

Zu Beginn ist es wichtig, die Situation einzuschätzen, denn nicht jeder Konflikt benötigt eine Begleitung. Vor allem bei gewaltvollem, destruktivem Verhalten ist es wünschenswert, dass Erzieher:innen schützen und Präsenz zeigen.

Im zweiten Schritt geht es darum, die Situation zu begleiten und zu verstehen, was das Kind oder die Kinder brauchen. Dazu geht die Fachkraft auf Augenhöhe und wirkt co-regulierend auf die Situation ein.

Sind Kinder in Erregung und gestresst, so übernimmt in der Regel das limbische System (auch als emotionales Gehirn bekannt) die Führung. Daher ist es wenig hilfreich, mit der sprachlichen Vermittlung zu beginnen, solange das Kind sich nicht regulieren konnte.

Vorab benötigt das Kind Unterstützung in der „Alarmdeaktivierung“ (Shanker 2016, S. 213), bevor es die eigenen Impulse und Gefühle steuern kann. Erlangt es ein Gefühl der Sicherheit, beruhigt sich schrittweise der Teil im Gehirn, in welchem der Alarm ausgelöst wurde (Amygdala). Das Kind kann wieder auf den präfrontalen Cortex (auch als denkendes Gehirn bekannt) zurückgreifen (vgl. Helle/Fløgstad 2019).

Offenheit und Wertschätzung

Wichtig ist es, den Kindern mit Offenheit und Wertschätzung zu begegnen und ihnen zu vermitteln, dass die Erwachsenen für sie da sind und sich wirklich für die Kinder mit ihren Anliegen und Gefühlen interessieren.

Im dritten Schritt, sobald sich alle Beteiligten beruhigt haben und wieder sicher fühlen, kann die Situation besprochen und gelöst werden. Entscheidend ist hier, eine angstfreie Atmosphäre zu schaffen, in der das aktive Zuhören und das wertfreie „Übersetzen“ Raum erhält. So kann der Erwachsene seine eigene Beobachtung teilen und ergründen, welches Bedürfnis bei dem Kind bzw. den Kindern unerfüllt scheint. Beispielsweise so:

„Nils, ich habe gesehen, wie du mit einem verärgerten Gesichtsausdruck zu Fredi gelaufen bist. Wolltest du auch gern mit dem Auto spielen?“ Der Erwachsene geht der Konfliktursache sensibel auf den Grund und fungiert als Sprachrohr. Abschließend kann nach Lösungen geschaut werden, die einen positiven Ausklang ermöglichen.

Im vierten Schritt geht es immer darum, dass die Erzieher:in achtsam schaut, wie es ihr selbst geht. Konflikte und intensive Gefühle zu begleiten ist sehr herausfordernd und kraftraubend. Erwachsene können nur gut für die Kinder sorgen und diese feinfühlig begleiten, wenn sie selbst ausgeglichen sind und für sich Sorge tragen. (vgl. Hohmann 2021)

Literatur:

  • Haug-Schnabel, G. (2020): Umgang mit aggressivem Verhalten von Kindern. Praxiskompetenz für Kitas. Freiburg im Breisgau. Herder Verlag
  • Helle, G. & Fløgstad, T. R. (2020): Schaut mal, wie ich lerne! Das Zusammenspiel von Körper und Gehirn in der frühkindlichen Entwicklung. Verlag Bananenblau.
  • Hohmann, K. (2021): Gemeinsam durch die Wut. Wie ein achtsamer Umgang mit kindlichen Aggressionen die Beziehung stärkt. Limbach-Oberfrohna. Edition claus Verlag
  • Largo, R. (2010): Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren. München. Piper Verlag
  • Shanker, S. (2016): Das überreizte Kind. Wie Eltern ihr Kind besser verstehen und zu innerer Balance führen. München

Zum Buch von Kathrin Hohman „Gemeinsam durch die Wut“ gibt es eine Rezension

Kathrin Hohmann ist Kindheitspädagogin (M.A) und Autorin. Zur Zeit promoviert sie im Bereich der pädagogischen Psychologie. Seit 2015 schreibt sie auf ihrem Blog Kindheiterleben sowie Fachtexte für verschiedene Portale.

Im Februar 2021 erscheint ihr erstes Buch „Gemeinsam durch die Wut. Wie ein achtsamer Umgang mit kindlichen Aggressionen die Beziehung stärkt“ im edition claus Verlag. Im Sommer 2021 „Kinder achtsam und bedürfnisorientiert begleiten“ im Herder Verlag. Für das niedersächsische Institut für frühe Bildung (nifbe) geht sie regelmäßig mit Expert:innen für den Podcast ins Gespräch.

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  • Kleinkind agressiv: stock_colors / Gettyimages